Archäologie CVXVVXXXXIII: Martin Walser - Kunstbericht
Literatur-Konkret 1981, S. 9
EINIGE reisen mit ihrer Verzweiflung von einer Gelegenheit zur anderen. Sie sind aber sehr künstlerisch und heikel. Bevor sie zusagen, ihre Verzweiflung zu dem und dem Zeitpunkt in einer bestimmten Stadt auszustellen, verlangen sie phantastische Garantiesummen. Würden ihnen die nicht gewährt, möchten sie sich mit ihrer Verzweiflung gar nicht mehr von der Stelle rühren. Aber die Summen werden garantiert, weil man ihre Verzweiflung endlich auch aus der Nähe erleben will. Dann hat man also diese wunderbare Verzweiflung in unserer Stadt. Man streichelt sie, die Verzweiflung. Man frägt ihn, den Besitzer, ob seine Verzweiflung auch uns streicheln könne. Nur einmal, bitte. Oder ob sie, die in der glanz- und elendsvollen, also unübertrefflich geschmackssicher entworfenen Koje kauert, wenigstens einmal die Augenlider heben könne zu einem einzigen Verbindlichkeitsblick. Aber während wir noch sprechen, verfinstert sich das Gesicht des Verzweiflungsbesitzers auf eine Weise, daß das Licht im Umkreis der 27-Kubikmeter-Koje einfach weggefressen wirkt. Wir haben eine Fehlbitte getan. Das sieht uns gleich. Bitte, antworten Sie uns nicht, Herr der Verzweiflung, wir nehmen die törichte Bitte zurück. Wir sehen schon, daß Ihre Verzweiflung mit uns nichts gemein haben will. Sie haben eine Verzweiflung, an die können wir nicht einmal hinriechen. Obwohl wir das gern täten. Aber gegen Ihre Verzweiflung sind wir einfach der letzte Dreck. Ja, ja, sagen Sie's uns nur immer wieder ins Gesicht, Sie höherer Mensch, Sie. Wir scheiden von Ihnen noch zerknirschter als wir gekommen sind. Rückwärts gehend verschwinden wir. Die Verzweiflung selber rührt sich natürlich nicht. Sie läßt sich nicht anmerken, ob sie uns überhaupt bemerkt hat. Sie sitzt einfach, Hände zwischen den Knien, ein Bild ihrer selbst. Man kann sie nicht erreichen, aber ehren. Lieben. Man möchte sie umarmen. Vielleicht hat sie paradiesische Ekzeme. Gerüche. Schwarze Unterhosen. Tätowierungen, die Erdteile zeigen, in denen noch niemand war. Nichts weiß man von ihr. Das will er so, der Besitzer. Wir grüßen. Wir gehen. Wir träumen. Als der Herr mit seiner Verzweiflung schon weitergereist ist, fangen wir an zu diskutieren. Hatte sie wirklich die Hände zwischen den Knien? Hatte sie nicht vielmehr die Beine übereinandergeschlagen? Und was wäre für eine so schöne Verzweiflung die richtige Haltung? Wir wissen es nicht. Uns muß es gesagt werden. Zum Glück gibt es Zeitungen, in denen alles steht, was wir über jene einmalig schöne Verzweiflung wissen müssen. Seit langem lesen wir nun in den besten Zeitungen, wie überall in der Welt jene herrliche Verzweiflung aufgenommen wird. Inzwischen ersetzt uns die Zeitung die Verzweiflung, gewissermaßen. Wenn wir uns genau prüften, würden wir wahrscheinlich feststellen: Zeitung und Verzweiflung, das ist eins. Der Herr der Verzweiflung ist der Herr der Zeitung. Es gibt nur eine Messe und das ist seine Messe. Und auf dieser Messe nur eine Koje und das ist seine Koje. Und in dieser Koje nur eine Verzweiflung und das ist seine Verzweiflung. Und die hat die Hände voller Zeitung, und das ist seine Zeitung, denn Zeitung und Verzweiflung, das ist eins. Das sollten wir, die Leute draußen im Land, eigentlich längst gelernt haben. Aber anstatt zu lernen, diskutieren wir, beugen uns in die Zeitung, beziehungsweise in die Verzweiflung.
BILD-Interview (12.07.2011) mit Schriftsteller Martin Walser (83) „Die Politik hat Sarrazin töricht schnell verurteilt“ -
Update:
via berlintürk.de
EINIGE reisen mit ihrer Verzweiflung von einer Gelegenheit zur anderen. Sie sind aber sehr künstlerisch und heikel. Bevor sie zusagen, ihre Verzweiflung zu dem und dem Zeitpunkt in einer bestimmten Stadt auszustellen, verlangen sie phantastische Garantiesummen. Würden ihnen die nicht gewährt, möchten sie sich mit ihrer Verzweiflung gar nicht mehr von der Stelle rühren. Aber die Summen werden garantiert, weil man ihre Verzweiflung endlich auch aus der Nähe erleben will. Dann hat man also diese wunderbare Verzweiflung in unserer Stadt. Man streichelt sie, die Verzweiflung. Man frägt ihn, den Besitzer, ob seine Verzweiflung auch uns streicheln könne. Nur einmal, bitte. Oder ob sie, die in der glanz- und elendsvollen, also unübertrefflich geschmackssicher entworfenen Koje kauert, wenigstens einmal die Augenlider heben könne zu einem einzigen Verbindlichkeitsblick. Aber während wir noch sprechen, verfinstert sich das Gesicht des Verzweiflungsbesitzers auf eine Weise, daß das Licht im Umkreis der 27-Kubikmeter-Koje einfach weggefressen wirkt. Wir haben eine Fehlbitte getan. Das sieht uns gleich. Bitte, antworten Sie uns nicht, Herr der Verzweiflung, wir nehmen die törichte Bitte zurück. Wir sehen schon, daß Ihre Verzweiflung mit uns nichts gemein haben will. Sie haben eine Verzweiflung, an die können wir nicht einmal hinriechen. Obwohl wir das gern täten. Aber gegen Ihre Verzweiflung sind wir einfach der letzte Dreck. Ja, ja, sagen Sie's uns nur immer wieder ins Gesicht, Sie höherer Mensch, Sie. Wir scheiden von Ihnen noch zerknirschter als wir gekommen sind. Rückwärts gehend verschwinden wir. Die Verzweiflung selber rührt sich natürlich nicht. Sie läßt sich nicht anmerken, ob sie uns überhaupt bemerkt hat. Sie sitzt einfach, Hände zwischen den Knien, ein Bild ihrer selbst. Man kann sie nicht erreichen, aber ehren. Lieben. Man möchte sie umarmen. Vielleicht hat sie paradiesische Ekzeme. Gerüche. Schwarze Unterhosen. Tätowierungen, die Erdteile zeigen, in denen noch niemand war. Nichts weiß man von ihr. Das will er so, der Besitzer. Wir grüßen. Wir gehen. Wir träumen. Als der Herr mit seiner Verzweiflung schon weitergereist ist, fangen wir an zu diskutieren. Hatte sie wirklich die Hände zwischen den Knien? Hatte sie nicht vielmehr die Beine übereinandergeschlagen? Und was wäre für eine so schöne Verzweiflung die richtige Haltung? Wir wissen es nicht. Uns muß es gesagt werden. Zum Glück gibt es Zeitungen, in denen alles steht, was wir über jene einmalig schöne Verzweiflung wissen müssen. Seit langem lesen wir nun in den besten Zeitungen, wie überall in der Welt jene herrliche Verzweiflung aufgenommen wird. Inzwischen ersetzt uns die Zeitung die Verzweiflung, gewissermaßen. Wenn wir uns genau prüften, würden wir wahrscheinlich feststellen: Zeitung und Verzweiflung, das ist eins. Der Herr der Verzweiflung ist der Herr der Zeitung. Es gibt nur eine Messe und das ist seine Messe. Und auf dieser Messe nur eine Koje und das ist seine Koje. Und in dieser Koje nur eine Verzweiflung und das ist seine Verzweiflung. Und die hat die Hände voller Zeitung, und das ist seine Zeitung, denn Zeitung und Verzweiflung, das ist eins. Das sollten wir, die Leute draußen im Land, eigentlich längst gelernt haben. Aber anstatt zu lernen, diskutieren wir, beugen uns in die Zeitung, beziehungsweise in die Verzweiflung.
BILD-Interview (12.07.2011) mit Schriftsteller Martin Walser (83) „Die Politik hat Sarrazin töricht schnell verurteilt“ -
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gebattmer - 2011/07/12 21:37
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