"Schüler als kognitive Mastschweine" - Zur Kritik der PISA-Vermessung des Menschen
Auf ihrem Gewerkschaftstag vom 12. bis 16. Juni wird die Bildungsgewerkschaft GEW auch darüber diskutieren, was von den PISA- und ähnlichen Studien zu halten und ob diesen zukünftig vielleicht sogar mit genereller Ablehnung zu begegnen ist. Telepolis sprach hierzu mit Wolfram Meyerhöfer, Professor für Mathematikdidaktik an der Universität Paderborn, der derlei "Vergleichsstudien" seit langem kritisiert und die gewerkschaftliche Auflehnung hiergegen wissenschaftlich fundiert und unterstützt hat.
Auszuge aus dem sehr lesenswerten Interview:
Sie wollen doch aber nicht bestreiten, dass ein Test besser als eine Schulnote ist?
Wolfram Meyerhöfer: Doch. Nur ist der Testwert anders problematisch als eine Note und zudem kein bisschen aussagekräftiger. In Bezug aufs Menschenmessen stellt sich die Frage aber noch anders. So ist es die eine Sache, dass wir mit Noten Menschen selektieren, um Zukunftschancen nach den Kriterien der Institution Schule zu vergeben. Dafür hat man sich halt entschieden, wenn man Lehrer wird. Es ist aber eine völlig andere Sache, wenn wir alles Kognitive und Seelische auf eine Zahlenskala pressen wollen. Das gilt insbesondere, wenn Schüler keine Möglichkeit haben, sich diesem Vermessen zu entziehen. Letztlich degradieren wir unsere Kinder mit derlei Verfahren zu kognitiven Mastschweinen.
Wir entmenschlichen sie also durch Verfahren, die ihren, man muss schon sagen, "gesellschaftlichen Wert" umso höher einstufen, umso weniger sie faktisch selbstständig, individuell, kreativ, ja, schlicht Kinder sind. Und das ist es, dieses Denken, was die PISA-Macher unserem Bildungssystem in Summe als neue Doktrin einverleiben und dabei euphemistisch "Qualität" oder ähnlich nennen, wobei sie im Hintergrund vor allem einen Bildungsmarkt im bisher noch staatlich geschützten Segment vorbereiten, also auf eine noch weitere Ökonomisierung von Bildung und Individuen abzielen. Umgekehrt muss man aber doch zugeben, dass PISA endlich die Debatte um die soziale Selektivität des Bildungssystems in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt hat.
Wolfram Meyerhöfer: Nein, das ist nichts weiter als ein Marketing-Märchen. Die soziale Selektivität des Bildungssystems ist seit Jahrzehnten bekannt, die hat man mit den im Schulsystem vorhanden Daten schon lange aufzeigen können. In der ersten PISA-Runde ging es auch nicht um soziale Selektivität, sondern um angeblich schlechte deutsche Schul-Leistungen. Diese wurden ertestet, indem man Tests mit in Deutschland völlig fremden Aufgaben konstruierte.
Nachdem man mit dieser Skandalisierungsstrategie PISA als bedeutsam konstruiert hatte, brauchte man für die zweite Runde dann einen neuen Skandal. Da hat man sich auf die soziale Selektivität gestürzt und alte Hüte als vermeintliche Neuigkeiten vermarktet. Die dritte Runde im Jahr 2009 wurde dann kaum noch zur Kenntnis genommen, denn alle verfügbaren Skandale waren bereits verbraucht. Zudem werden inzwischen auch die Testwerte besser, denn mittlerweile wird in Schulen zunehmend auf PISA-Aufgaben hin unterrichtet.
Sie bleiben also dabei, was Sie auch bereits zusammen mit dem Landesverband Hessen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erklärt haben: "PISA ist der falsche Weg!"? Zu welchen Konsequenzen aber führt das dann?
Wolfram Meyerhöfer: PISA konnte deshalb so viel Reformdruck in die falsche Richtung, nämlich jene von Ökonomisierung und Standardisierung von Bildung entfalten, weil es seit langem eine riesige Unzufriedenheit mit dem Schulwesen gab und gibt. Schule entkleidet die bildsamen Gegenstände von nahezu allem Bildsamen und unterrichtet das, was übrig bleibt. Mathematik, Literatur oder Geografie sind faszinierend, solange sie keinen Eingang in ein Klassenzimmer finden. Langeweile, Frust und die Wut des enttäuschten Geistes nähren daher jede Schulschelte. Entsprechend wurde die PISA-Beschämung begrüßt. Dabei wurde dann nur leider übersehen, dass PISA gar keinen Weg aufzeigt, um den bildsamen Gegenständen im Unterricht wirklich Raum zu verschaffen...
Vgl auch:
- Kompetenzgehirnwäsche: Machtausübung durch Individualisierung und
- Diagnostik für lernwirksamen Unterricht: What Dubs Can But Data Can't Do
Auszuge aus dem sehr lesenswerten Interview:
Sie wollen doch aber nicht bestreiten, dass ein Test besser als eine Schulnote ist?
Wolfram Meyerhöfer: Doch. Nur ist der Testwert anders problematisch als eine Note und zudem kein bisschen aussagekräftiger. In Bezug aufs Menschenmessen stellt sich die Frage aber noch anders. So ist es die eine Sache, dass wir mit Noten Menschen selektieren, um Zukunftschancen nach den Kriterien der Institution Schule zu vergeben. Dafür hat man sich halt entschieden, wenn man Lehrer wird. Es ist aber eine völlig andere Sache, wenn wir alles Kognitive und Seelische auf eine Zahlenskala pressen wollen. Das gilt insbesondere, wenn Schüler keine Möglichkeit haben, sich diesem Vermessen zu entziehen. Letztlich degradieren wir unsere Kinder mit derlei Verfahren zu kognitiven Mastschweinen.
Wir entmenschlichen sie also durch Verfahren, die ihren, man muss schon sagen, "gesellschaftlichen Wert" umso höher einstufen, umso weniger sie faktisch selbstständig, individuell, kreativ, ja, schlicht Kinder sind. Und das ist es, dieses Denken, was die PISA-Macher unserem Bildungssystem in Summe als neue Doktrin einverleiben und dabei euphemistisch "Qualität" oder ähnlich nennen, wobei sie im Hintergrund vor allem einen Bildungsmarkt im bisher noch staatlich geschützten Segment vorbereiten, also auf eine noch weitere Ökonomisierung von Bildung und Individuen abzielen. Umgekehrt muss man aber doch zugeben, dass PISA endlich die Debatte um die soziale Selektivität des Bildungssystems in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt hat.
Wolfram Meyerhöfer: Nein, das ist nichts weiter als ein Marketing-Märchen. Die soziale Selektivität des Bildungssystems ist seit Jahrzehnten bekannt, die hat man mit den im Schulsystem vorhanden Daten schon lange aufzeigen können. In der ersten PISA-Runde ging es auch nicht um soziale Selektivität, sondern um angeblich schlechte deutsche Schul-Leistungen. Diese wurden ertestet, indem man Tests mit in Deutschland völlig fremden Aufgaben konstruierte.
Nachdem man mit dieser Skandalisierungsstrategie PISA als bedeutsam konstruiert hatte, brauchte man für die zweite Runde dann einen neuen Skandal. Da hat man sich auf die soziale Selektivität gestürzt und alte Hüte als vermeintliche Neuigkeiten vermarktet. Die dritte Runde im Jahr 2009 wurde dann kaum noch zur Kenntnis genommen, denn alle verfügbaren Skandale waren bereits verbraucht. Zudem werden inzwischen auch die Testwerte besser, denn mittlerweile wird in Schulen zunehmend auf PISA-Aufgaben hin unterrichtet.
Sie bleiben also dabei, was Sie auch bereits zusammen mit dem Landesverband Hessen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erklärt haben: "PISA ist der falsche Weg!"? Zu welchen Konsequenzen aber führt das dann?
Wolfram Meyerhöfer: PISA konnte deshalb so viel Reformdruck in die falsche Richtung, nämlich jene von Ökonomisierung und Standardisierung von Bildung entfalten, weil es seit langem eine riesige Unzufriedenheit mit dem Schulwesen gab und gibt. Schule entkleidet die bildsamen Gegenstände von nahezu allem Bildsamen und unterrichtet das, was übrig bleibt. Mathematik, Literatur oder Geografie sind faszinierend, solange sie keinen Eingang in ein Klassenzimmer finden. Langeweile, Frust und die Wut des enttäuschten Geistes nähren daher jede Schulschelte. Entsprechend wurde die PISA-Beschämung begrüßt. Dabei wurde dann nur leider übersehen, dass PISA gar keinen Weg aufzeigt, um den bildsamen Gegenständen im Unterricht wirklich Raum zu verschaffen...
Vgl auch:
- Kompetenzgehirnwäsche: Machtausübung durch Individualisierung und
- Diagnostik für lernwirksamen Unterricht: What Dubs Can But Data Can't Do
gebattmer - 2013/06/14 11:14
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